Von Ahnen und Wappen – das Stammbuchhalteramt Nidwalden

Bis 1975 gab es in Nidwalden das sogenannte Stammbuchhalteramt. Der Stammbuchhalter führte und verwahrte die obrigkeitlichen Stammbücher und hatte Aufsichtsfunktionen im Zivilstandswesen. Er erstellte aber auch Ahnenlisten und Stammbäume. Familienforschung als amtliche Tätigkeit  ̶  das brachte der Beruf des Stammbuchhalters mit sich.

Auszug aus dem Alten Stammbuch von Nidwalden
Abb. 1: Auszug aus dem Alten Stammbuch von Nidwalden, Bd. 9, ca. 1798-1818. Stammbaum und Familienwappen der Familie Trachsler (Signatur: StANW A 1197-1/9).

Der Stammbuchhalter und seine Funktion

Im Staatsarchiv Nidwalden befindet sich ein Aktenbestand des früheren Staatsarchivars und Stammbuchhalters Ferdinand Niederberger (1907–1975). Fast genau vier Jahrzehnte lang, von 1934 bis zu seinem Tod 1975, übte er diese beiden Ämter in Personalunion aus. Entsprechend reichhaltig und interessant für die Geschichtsforschung sind die von ihm überlieferten Unterlagen.

In seiner Tätigkeit als Stammbuchhalter war Niederberger für die Führung des Nidwaldner Stammbuches verantwortlich. Dabei handelt es sich um grossformatige Bücher, welche die historischen Stammbäume der einheimischen Geschlechter enthalten. Teilweise reichen die Angaben im Stammbuch mehrere Jahrhunderte zurück.

Bis 1934 waren grundsätzlich alle Zivilstandsdaten von Nidwaldner Bürgerinnen und Bürgern ins Stammbuch eingetragen worden. Neue Einträge wurden danach von Niederberger nicht mehr systematisch vorgenommen, weil inzwischen die Zivilstandsregister schweizweit eingeführt worden waren und das Stammbuch als Medium der Datenerfassung abgelöst hatten; Niederberger ergänzte aber weiterhin bereits bestehende Personeneinträge im Stammbuch um Informationen, die ihm gemeldet wurden.

Darüber hinaus beaufsichtigte der Stammbuchhalter die kantonalen Zivilstandsämter und verwahrte die Doppel der Zivilstandsregister, in welchen er die Randanmerkungen nachzuführen hatte. Die Zivilstandsbeamten waren ihm somit in ihrer amtlichen Tätigkeit Rechenschaft schuldig und mussten beispielsweise alljährlich für ihren jeweiligen Zivilstandskreis ein «Verzeichnis der Geburten, Todesfälle und Ehen» zu Handen des Stammbuchhalters erstellen.

Einwohnerstatistik

Diese alljährlichen Verzeichnisse der kantonalen Zivilstandsämter enthalten wertvolle Angaben zur Bevölkerungsentwicklung in Nidwalden. Für das erste Amtsjahr Niederbergers als Stammbuchhalter 1934 lässt sich etwa aussagen, dass damals im Zivilstandskreis Stans 143 Geburten, 49 Ehen und 91 Todesfälle gezählt wurden. 1950 zählte man immerhin schon 341 Geburten, 64 Ehen und 87 Todesfälle. Im letzten überlieferten Zähljahr 1973 waren es 421 Geburten, 93 Ehen und 175 Todesfälle.

Diese Angaben allein können zwar kein Gesamtbild wiedergeben. Doch immerhin lassen sie auf ein langsames, aber stetiges Bevölkerungswachstum im Hauptort des Kantons Nidwalden während des 20. Jahrhunderts schliessen. Ausserdem können ansatzweise sogar gewisse Informationen in Bezug auf die ungefähre Lebenserwartung der Bevölkerung aus diesen Angaben abgeleitet werden, und zwar insofern, als bei den Todesfällen stets auch die jeweiligen Altersstufen vermerkt wurden.

Amtliche Bescheinigungen

Laut Reglement von 1934 für den Stammbuchhalter hatte dieser, auf Anfrage von Amtsstellen oder Privatpersonen, Auszüge aus dem Stammbuch und aus den Zivilstandsregistern zum Beispiel zwecks Erbennachsuchungen oder Familienforschungen zu erstellen.

Die überlieferten Akten zeigen mitunter eindrucksvoll, wie sich der Anspruch der Familienforschung während der Amtszeit Niederbergers von 1934 bis 1975 zum Teil grundlegend verändert hat:

In den 1930er und 1940er Jahren wandten sich viele aus Nidwalden stammende Personen, die im nationalsozialistischen Deutschland lebten, an den Stammbuchhalter und ersuchten ihn um Stammbuchauszüge für die Erstellung eines sogenannten Ariernachweises. Einen solchen Nachweis benötigten ab 1935, aufgrund der nationalsozialistischen Rassengesetze, alle Einwohnerinnen und Einwohner des Deutschen Reichs.

Der Stammbuchhalter bestätigte in seinem Schreiben, dass «eine jüdische Blutsverwandtschaft oder Abstammung» bei den ermittelten Vorfahren der betroffenen Person «vollständig ausgeschlossen» sei. Danach musste diese Bescheinigung noch beglaubigt und schliesslich den deutschen Behörden vorgelegt werden.

Moderne Familienforschung

Diesen Missbrauch der Familienforschung gibt es glücklicherweise seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Untergang des deutschen NS-Regimes 1945 nicht mehr in Europa. Stattdessen traten, zeitgleich mit dem Wirtschaftsaufschwung in den 1950er Jahren, vielmehr die persönliche Selbstverwirklichung, Freude und Neugierde in den Vordergrund der Familienforschung. Wer waren die Vorfahren, woher kamen sie, wie lange lebten sie und welche Berufe und Ämter bekleideten sie? Das sind Fragen, welche seither Familienforscherinnen und Familienforscher interessieren.

Ein weiteres Forschungsziel in der privat betriebenen Genealogie besteht interessanterweise auch häufig darin, dass viele Menschen sich dadurch die Konstruktion einer «edlen» Abstammung erhoffen: In Nidwalden etwa versuchen Familienforscherinnen und Familienforscher oft, ihre Ahnenlinie bis zu Niklaus von Flüe (Bruder Klaus) oder sogar bis zur sagenumwobenen Heldenfigur Arnold von Winkelried zurückverfolgen zu können.

Jedenfalls stellt das Nidwaldner Stammbuch, gerade im Hinblick auf die heutige Familienforschung, eine besonders wertvolle Quelle dar. Deshalb wurde es digitalisiert und kann nun auf der Website des Staatsarchivs online unter https://archives-quickaccess.ch/search/StANW/stammbuch eingesehen werden. Damit ist heute das Stammbuch für die breite Öffentlichkeit zugänglich.

Sven Wahrenberger

Abb. 2: Im Aktenbestand von Ferdinand Niederberger sind die «Verzeichnisse der Geburten, Todesfälle und Ehen» in den Zivilstandskreisen des Kantons Nidwalden lückenlos von 1934 bis 1973 überliefert. Hier das Verzeichnis in Stans von 1934 (Signatur: StANW D 1585-2.2/1).
Abb. 2: Im Aktenbestand von Ferdinand Niederberger sind die «Verzeichnisse der Geburten, Todesfälle und Ehen» in den Zivilstandskreisen des Kantons Nidwalden lückenlos von 1934 bis 1973 überliefert. Hier das Verzeichnis in Stans von 1934 (Signatur: StANW D 1585-2.2/1).
Abb. 3: Diese amtliche Bescheinigung diente als Grundlage für einen «Ariernachweis». Sie deckt lediglich die Vorfahren väterlicherseits der betroffenen Person ab, die aus Nidwalden stammten. Name der betroffenen Person geschwärzt, 1938 (Signatur: StANW D 1585-2.2/5).
Abb. 3: Diese amtliche Bescheinigung diente als Grundlage für einen «Ariernachweis». Sie deckt lediglich die Vorfahren väterlicherseits der betroffenen Person ab, die aus Nidwalden stammten. Name der betroffenen Person geschwärzt, 1938 (Signatur: StANW D 1585-2.2/5).
Abb. 4: Zwei besonders schön gestaltete Stammbäume für die Familien Zimmermann und Murer wurden bereits von Josef Käslin (Niederbergers Vorgänger als Stammbuchhalter) erstellt, 1928-29 (Signatur: StANW D 1585-1.3/1).
Abb. 4: Zwei besonders schön gestaltete Stammbäume für die Familien Zimmermann und Murer wurden bereits von Josef Käslin (Niederbergers Vorgänger als Stammbuchhalter) erstellt, 1928-29 (Signatur: StANW D 1585-1.3/1).
Abb. 5: Die erste Doppelseite im Stammbaum der Familie Zimmermann, 1928 (Signatur: StANW D 1585-1.3/1).
Abb. 5: Die erste Doppelseite im Stammbaum der Familie Zimmermann, 1928 (Signatur: StANW D 1585-1.3/1).