Nidwalden oder Obwalden zuerst? Streit um die historische Rangfolge

Selbstverständlicher Vorrang Nidwaldens vor Obwalden: Davon ging die Nidwaldner Regierung aus, als sie 1941 anlässlich der 650-Jahrfeier der Eidgenossenschaft forderte, im Festzug nach Schwyz vor der Obwaldner Delegation marschieren zu dürfen. Nidwalden sollte ausserdem das Recht besitzen, als einer der Urkantone das Rütlifeuer zu entzünden. Sitzungsunterlagen und energischer Schriftverkehr über den historischen Vorrang und die Verdienste der damaligen Halbkantone sind im Rahmen des Nacherschliessungsprojekts im Staatsarchiv Nidwalden zum Vorschein gekommen.

Briefwechsel zwischen Nidwalden und Obwalden von 1941
Zeugen der hitzigen Debatte von 1941: Auszüge aus den Verhandlungen des Nidwaldner Regierungsrates, Schreiben mit Abdruck des Testaments von Pfarrer Joseph Gut sowie Karte des Obwaldner Landammanns über Ergebnisse der Recherchen im dortigen Archiv (Staatsarchiv Nidwalden, D 1715-2/3)

Rivalitäten zwischen Nidwalden und Obwalden begannen mit dem Auseinanderfallen des Rechtsgebildes Unterwalden im zweiten Drittel des 14. Jahrhunderts. Als Rechtsnachfolger des Standes Unterwalden teilten sich die beiden Landorte «ob und nid dem Kernwald» lange gemeinsame Rechte und Pflichten. Doch war das Verhältnis vorerst nicht ausgeglichen, da Obwalden zwei Drittel der eidgenössischen Rechte und Einkünfte für sich beanspruchte. Erst die Einheitsverfassung der Helvetik und die Mediationsakte von 1803 brachten die Gleichberechtigung. Mit der Bundesstaatsgründung 1848 und bis zur Annahme der neuen Bundesverfassung 1999 galten Nidwalden und Obwalden als Halbkantone. Streitereien um den Vorrang sind seit dem 15. Jahrhundert in verschiedensten Zusammenhängen belegt und spielten sich insbesondere zwischen den jeweiligen politischen Eliten der Halbkantone ab. Interessanterweise flammten sie im Jubiläumsjahr der Bundesfeier 1941 erneut auf.

Schon während der Vorbereitungen zur Jubiläumsfeier wurde die Nidwaldner Regierung – angestachelt durch den damaligen Staatsarchivar Ferdinand Niederberger – nicht müde, das Bundesfeierkomitee sowie den Schwyzer Regierungsrat dahin zu drängen, die Reihenfolge der Kantonsfahnen und der kantonalen Wappenscheiben im Schwyzer Rathaus im Sinne Nidwaldens zu entscheiden. Dabei berief man sich auf den Bundesbrief von 1291, der damals als Gründungsurkunde der Schweizer Eidgenossenschaft galt. Als Bündnisparteien seien dort nebst Uri und Schwyz «die Gemeinde der Leute von Unterwalden, niederen Tales» genannt. Für die Regierung in Nidwalden war damit der Vorrang vor Obwalden klar. Heute wird der dokumentarische Wert des Bundesbriefs differenzierter eingeschätzt und es ist nicht sicher, welche dritte Partei im lateinischen Urtext tatsächlich gemeint war. Damals allerdings kamen erste Programmentwürfe für die Bundesfeier 1941 der Nidwaldner Forderung insofern nach, als die Delegation aus Stans im Festzug vor derjenigen aus Sarnen platziert wurde.

Um die eigene Sache voranzutreiben, teilte die Regierung in Nidwalden weiterhin kräftig aus: Man verwies ausdrücklich auf den Kampf gegen die französischen Truppen 1798 und sprach von der «reichen, heldenhaften und staatspolitisch einwandfreien Geschichte» des Standes Nidwalden. In einem als «streng vertraulich» betitelten Express-Schreiben an den Landammann von Obwalden zitierte sein Nidwaldner Pendant Werner Christen zudem das Testament von Pfarrer Joseph Gut aus Stans, in welchem die «ewige Schande» Obwaldens mit dem Annehmen der helvetischen Verfassung, dem im Stichlassen der Urkantone und dem Mitplündern in Nidwalden ausgeführt wurden. Sich in einer regierungsamtlichen Rechtfertigung auf das Testament einer Privatperson zu stützen, wirkte vermutlich schon damals ebenso dick aufgetragen wie an den Haaren herbeigezogen.

Die Regierung in Obwalden sah sich angesichts all dieser Forderungen ihrer historischen Rechte beraubt. Sie argumentierte unter Hinweis auf die traditionelle Reihenfolge, die 1848 im ersten Artikel der Bundesverfassung festgehalten worden war: Darin bilden das Schweizervolk und die Kantone, unter ihnen «Obwalden und Nidwalden», die Schweizer Eidgenossenschaft. Entsprechend entschied fast 100 Jahre später auch das Eidgenössische Departement des Innern: Im Festzug nach Schwyz marschierte am 1. August 1941 die Delegation aus Obwalden vor derjenigen aus Nidwalden.

Sichtlich gekränkt beschloss der Nidwaldner Regierungsrat, nach der Bundesfeier eine Klarstellung an Landammann und Regierung von Obwalden zu richten. Diese wurde als Kopie ebenfalls an alle eidgenössischen Stände versandt: Nachdem Obwalden nun auch noch auf dem Rütli bei der Entzündung des Bundesfeuers unberechtigterweise zu Ehren gekommen sei, müsse Nidwalden mit allem Nachdruck auf die geschichtliche Tatsache hinweisen, «dass nebst den Ständen Uri und Schwyz nur der Stand Nidwalden allein an der Gründung der Eidgenossenschaft bzw. am Bundesbrief von 1291 tatsächlich Anteil hat».

Die Verfasser Werner Christen und Ständerat Remigi Joller zitierten mehrere Historiker von Ruf, die sich anlässlich der Bundesfeier in Sonderschriften geäussert und «den Sachverhalt historisch richtig dargestellt» hätten. Weitere Beweiskraft sollte das Bundesfeierspiel von Cäsar von Arx liefern: Die Inszenierung sah vor, dass hier das Nidwaldner Banner vor demjenigen von Obwalden zu tragen sei und gleichberechtigt neben dem von Uri und Schwyz zu hängen habe.

Trotz energischem Ton und weit hergeholten Argumenten hatte die Nidwaldner Regierung bei der Bundesfeier letztlich klein beigeben müssen. Als Trostpflaster konnte jedoch gelten, dass das Wandbild an der Hauptfassade des 1936 eröffneten Bundesbriefmuseums in Schwyz nachträglich im Sinne Nidwaldens geändert wurde: Der Künstler Heinrich Danioth hatte die Fahne des Bannerträgers von Unterwalden zunächst als einen einfachen Schlüssel gestaltet. Hier konnte die Regierung in Stans nach wiederholtem Begehren die Anbringung des Doppelschlüssels auf rotem Grund durchsetzen, obwohl das eidgenössische Wappen Unterwaldens im 14. Jahrhundert nur aus einem einfachen, in Rot und Weiss geteilten Banner bestanden hatte. Trotz Widerstand seitens des zuständigen Archivars in Schwyz wurde die anachronistische Korrektur im Frühjahr 1941 veranlasst.

Aus heutiger Sicht mag der akribische Streit der beiden Halbkantone um ihre historische Rangfolge merk- und fragwürdig erscheinen. Als wie elementar diese Angelegenheit 1941 aber eingeschätzt wurde, dokumentieren die im Vorfeld der Bundesfeier und im Nachhinein aufgesetzten Schreiben, Richtigstellungen und Erwiderungen, die nun im Staatsarchiv Nidwalden recherchiert und eingesehen werden können.

Nathalie Durot

Streit zwischen NW und OW: Pressedokumentation 1941
Sonderschriften zur Bundesfeier 1941 bestärkten die Nidwaldner Position. So verwies Professor Dr. Hans Nabholz in der Schweizer Illustrierten Zeitung darauf, dass Obwalden dem Bund der Urkantone erst nachträglich beigetreten sei. (Staatsarchiv Nidwalden, D 1715-2/3)
Abschrift Bundesbrief
Wandbild des 1936 eröffneten Bundesbriefmuseums vor der Korrektur im Auftrag Nidwaldens: Der Fahnenträger in der rechten oberen Ecke trägt das Obwaldner Banner. Deutsche Übersetzung des Bundesbriefes in der Schweizer Illustrierter Zeitung von 1941. (Staatsarchiv Nidwalden, D 1715-2/3)
Festspiel 1891
Bereits im Jahr 1891 wurde in Schwyz das 600-jährige Bestehen der Eidgenossenschaft unter Beteiligung Nidwaldens gefeiert. Ein Ausschnitt aus dem Festspiel zeigt das Wirken Pestalozzis, dargeboten von der Theatergruppe Stans. (Staatsarchiv Nidwalden, OB 5-7/13:2)