Von Füsilieren und Tirailleuren – Nidwaldner Militärorganisation im 19. Jh.

Die Schweizerische Bundesverfassung von 1848 nannte als ersten Zweck des Bundes die Behauptung der Unabhängigkeit nach aussen und die Handhabung von Ruhe und Ordnung im Innern. Die Landesverteidigung wurde eine zentrale Aufgabe des jungen Bundesstaates – und musste unter anderem auch im Deutsch-Französischen Krieg von 1870-71 wahrgenommen und erfüllt werden. Dabei spielten kantonale Truppen eine wichtige Rolle.  

Gesetze über die Militärorganisation des Kantons Nidwalden von 1817 bis 1854 (
Abb. 1: Gesetze über die Militärorganisation des Kantons Nidwalden von 1817 bis 1854 (Signatur: StANW C 1110/16.1).

Militärdienst im jungen Bundesstaat

Im Staatsarchiv Nidwalden gibt es einen neu erschlossenen Militäraktenbestand aus der Zeit zwischen den 1850er und 1870er Jahren. Er dokumentiert eine Zeit, als der Militärunterricht der Infanterie – ausgerechnet die Haupttruppengattung der Armee mit dem deutlich grössten Mannschaftanteil – noch gar nicht in der Hauptverantwortung des Bundes, sondern der Kantone lag.

Laut dem eidgenössischen Militärgesetz vom 8. Mai 1850 war grundsätzlich jeder Schweizer vom 20. bis zum 44. Altersjahr dazu verpflichtet, Militärdienst zu leisten; genauere Bestimmungen erliessen die Kantone. Die Mannschaft wurde je nach Alter und geleisteter Dienstzeit in vier Klassen eingeteilt: Rekrutenklasse, Bundesauszug, Bundesreserve und Landwehr.

Ganz am Anfang der Dienstzeit eines Soldaten stand die Rekrutierung, welche laut dem Militärgesetz des Kantons Nidwalden von 1854 jedes Frühjahr in der Kaserne Wil b/Stans (heute kantonaler Waffenplatz) stattfand. Dort wurden die Rekruten den diversen Waffengattungen zugeteilt: Die meisten kamen zur Infanterie, andere zur Kavallerie, Artillerie, den Genie-, Verwaltungs- oder Sanitätstruppen.

Für die Ausbildung der Infanterie mit ihren Jägern und Füsilieren waren damals – wie erwähnt – die Kantone zuständig. So schrieb das Nidwaldner Militärgesetz von 1854 vor, dass die Rekrutenschule der Jäger und Füsiliere nur 28 bis 35 Tage dauerte, und die jährlichen Wiederholungskurse rund eine Woche.

Wie hat man sich eine solche Militärschule vorzustellen?

 

Ablauf einer früheren Infanterie-Rekrutenschule

Einen einzigartigen Einblick in die Organisation einer Infanterie-Rekrutenschule in der Kaserne Wil und in die dort vermittelten Grundausbildungen bietet das «Befehlbuch» von 1870. Es diente den Instruktoren als Leitfaden während des gesamten Kurses, denn das Buch enthält für jeden einzelnen Schultag einen Tagesbefehl und sogar einen Stundenplan.

Ein Blick in das «Befehlbuch» gibt Aufschluss darüber, wie die 28-tägige Rekrutenschule vom 22. April 1870 bis zum 20. Mai 1870 strukturiert war: Demzufolge mussten die angehenden Infanteristen in den ersten Tagen vor allem Grundlegendes wie den Gleichschritt und Wendungen erlernen, aber auch den richtigen Umgang mit dem Gewehr und dem Bajonett.

Nach dieser ersten Einführungsphase standen verschiedene Exerzierübungen sowie die körperliche Ertüchtigung der Soldaten auf dem Programm. Die meisten Ausbildungstage begannen um 6.00 Uhr früh, entweder mit einer Turnstunde oder mit einer Theoriestunde zum Felddienst. Nachher wurde schnell das Frühstück eingenommen, bevor dann in der Regel täglich um ca. 7.30 Uhr eine rund eineinhalbstündige Schiessübung stattfand.

Einen grossen Stellenwert hatte der anschliessende, rund einstündige «Tirailleurdienst», bei dem die Mannschaft sich im gezielten Schiessen aus der Bewegung – das heisst «im Vorrücken und im Rückzug» – üben musste. Nach dem Mittagessen wurden meist einige dieser Ausbildungsmodule nochmals wiederholt, bis es dann am Abend gegen 18.00 Uhr endlich «Abtreten» hiess und die Rekruten das Abendessen fassen konnten.

Der typische Ausbildungstag war somit eine Kombination aus Waffendrill, Soldaten- und Zugschule sowie Zielschiessen.

 

Der Deutsch-Französische Krieg bricht aus

Nur zwei Monate nach Abschluss der beschriebenen Rekrutenschule in Stans brach der Deutsch-Französische Krieg von 1870-1871 aus. Die Schweiz erklärte sich neutral und ergriff sofort gewisse vorsorgliche Massnahmen, um das Land zu schützen – so wurde die Schweizer Grenze mit einem Truppenaufgebot von zeitweise bis zu 37'000 Mann gesichert.

Bei dieser Grenzbesetzung war unter anderem auch das damalige Bataillon 74 aus Nidwalden beteiligt. Nidwaldner Soldaten aus diesem Bataillon waren im Sommer 1870 im Kanton Schaffhausen in den Gemeinden Neukirch, Hallau, Siblingen, Wilchingen und Buchberg stationiert, wie aus den Korrespondenzschreiben der kantonalen Militärdirektion hervorgeht.

Einige «Aufenthaltszeugnisse» für die in den Gemeinden des Kantons Schaffhausen einquartierten Truppenkontingente aus Nidwalden sind ebenfalls überliefert. Diese Zeugnisse wurden von den Behörden in Schaffhausen ausgestellt und bescheinigen den Nidwaldner Soldaten ein «ausgezeichnetes, musterhaftes Betragen» für die Zeit ihres Einsatzes vor Ort.

Diese Aufenthaltszeugnisse sind insofern speziell interessant, als der Sonderbundskrieg damals erst 23 Jahre zurücklag und Nidwalden und Schaffhausen bei diesem Konflikt jeweils auf der gegnerischen Seite gestanden hatten. Möglicherweise hat man den Soldaten auch deshalb gesagt, dass sie bei ihrem Einsatz an der Grenze in Schaffhausen um 1870 einen positiven Eindruck machen sollten.

Wie gefährlich der Dienst an der Grenze mitunter sein konnte, soll folgende Geschichte zeigen.

 

Die Bourbaki-Armee in der Schweiz

Nach den Niederlagen der Franzosen im September 1870 gegen die Deutschen bewegte sich im Januar 1871 ein desorganisierter und demoralisierter französischer Heeresverband unter dem Befehl von General Charles Denis Bourbaki in Richtung Schweizer Grenze. Angesichts der drohenden Gefahr ordnete der Bundesrat die Teilmobilmachung an und verstärkte so den Schutz der Grenze.

Doch dann folgte die Bitte des französischen Generals an den Bundesrat um Aufnahme in der Schweiz, denn seine kriegsversehrten Soldaten litten an Hunger, Durst, Kälte und Krankheiten. So kam es ab dem 1. Februar 1871 zur Internierung der Bourbaki-Armee in der Schweiz. Ein Teil der neu erschlossenen Militärakten im Staatsarchiv Nidwalden zeugt von diesem geschichtsträchtigen Ereignis.

Französische Soldaten in Nidwalden wurden in der Kaserne Wil untergebracht und dort verpflegt. Sie wurden aus Sicherheitsgründen bewacht, wie ein Plakat der Militärdirektion des Kantons vom 2. Februar 1871 zeigt. Demnach durften die internierten Franzosen sich zum Beispiel nicht weiter als 20 Schritt vom nächsten Nidwaldner Wachtsoldaten entfernen.

Verwundete oder kranke französische Soldaten wurden ärztlich behandelt, aber nicht alle überstanden ihre Verletzungen und Krankheiten. Bis heute erinnert auf dem Friedhof von Stans ein Gedenkstein – errichtet von den «citoyens de Nidwalden» – an die acht französischen Soldaten, die 1871 hier starben. Sobald die Situation im März 1871 es erlaubte, wurden auch Rückführungen organisiert. Amtliche Bescheinigungen hierüber beweisen, dass allein in der Kaserne Wil über 300 französische Soldaten interniert waren und von hier aus über Genf in ihre Heimat zurückgeführt werden konnten.

Das um 1881 geschaffene Bourbaki-Panorama in Luzern erinnert heute noch sehr eindrucksvoll daran, wie gross damals die Not der französischen Soldaten gewesen sein muss. Dadurch vermittelt es, gerade vor dem Hintergrund der heutigen Zeit, auch eine sehr aktualitätsbezogene Lektion: Denn es lehrt uns, dass Hilfe zur Milderung von Leid eine ethische und moralische Pflicht des Menschen sein sollte.

Sven Wahrenberger

Ordonnanz über die Militäruniform der Infanteristen und Ordonnanz über den schweizerischen Repetier-Karabiner, genannt «Vetterli-Gewehr», von 1871
Abb. 2: Ordonnanz über die Militäruniform der Infanteristen und Ordonnanz über den schweizerischen Repetier-Karabiner, genannt «Vetterli-Gewehr», von 1871 (Signatur: StANW C 1110/14.1).
Erste Seite im «Befehlbuch» mit dem Generalbefehl für die Infanterie-Rekrutenschule in Stans von April bis Mai 1870
Abb. 3: Erste Seite im «Befehlbuch» mit dem Generalbefehl für die Infanterie-Rekrutenschule in Stans von April bis Mai 1870 (Signatur: StANW C 1110/18.9).
Zwei «Aufenthaltszeugnisse» aus der Zeit der Grenzbesetzung während des Deutsch-Französischen Kriegs 1870-1871. Sie stammen aus Schaffhausen und bescheinigen den dort einquartierten Nidwaldnern Soldaten ein gutes Betragen während ihres Einsatzes vor Ort
Abb. 4: Zwei «Aufenthaltszeugnisse» aus der Zeit der Grenzbesetzung während des Deutsch-Französischen Kriegs 1870-1871. Sie stammen aus Schaffhausen und bescheinigen den dort einquartierten Nidwaldner Soldaten ein gutes Betragen während ihres Einsatzes vor Ort (Signatur: StANW C 1110/15.2).
Diese Dokumente zeugen vom Aufenthalt französischer Soldaten der Bourbaki-Armee in der Kaserne Wil. Dort wurden sie im Februar 1871 interniert und verpflegt, bis sie im März 1871 in ihre Heimat zurückgeführt werden konnten
Abb. 5: Diese Dokumente zeugen vom Aufenthalt französischer Soldaten der Bourbaki-Armee in der Kaserne Wil. Dort wurden sie im Februar 1871 interniert und verpflegt, bis sie im März 1871 in ihre Heimat zurückgeführt werden konnten (Signatur: StANW C 1110/15.4).
Abb. 6: Verzeichnis der Hinterlassenschaften der acht in Nidwalden verstorbenen französischen Soldaten der Bourbaki-Armee. Diese Namen sind auch auf dem Gedenkstein auf dem Friedhof von Stans eingraviert (Signatur: StANW C 1110/15.4).